Info zum Titel

Shanghai ganz nah — fern von wo?

Der Name unseres Blogs ist dem wunderbaren und mehrfach ausgezeichneten Roman von Ursula Krechel „Shanghai fern von wo“ (2008) entliehen. Darin beschreibt sie anhand ausgewählter Beispiele die Dramatik der Situation für jüdische Flüchtlingen im Jahr 1938/39, für die Shanghai die letzte Rettung vor den Nationalsozialisten bedeutete. Anders als westlich-demokratische Länder wie die USA, Großbritannien oder die Schweiz mit ihren restriktiven Einwanderungsbestimmungen bzw. gedeckelten Aufnahmekapazitäten war Shanghai eine „offene Stadt“ – ein so genanntes International Settlement,[1] mehrstaatlich verwaltet – für die die Flüchtlinge weder Pässe noch Einreisevisa, weder Aufenthaltsgenehmigungen, Affidavits oder Arbeitserlaubnisse, weder Kapitalnachweise noch Landegelder benötigten. Selbst Häftlinge in Konzentrationslagern und Gefängnissen, denen die Staatsbürgerschaft nebst Pass entzogen worden war, wurden u.U. freigelassen, wenn jemand sie mit einer Schiffspassage freikaufte.

Als mit dem Kriegseintritt Italiens an der Seite des Deutschen Reiches am 10. Juni 1940 der Seeweg entfiel, verblieben zur Flucht nur noch die Landwege nach und über den Fernen Osten, wobei es nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 zunehmend schwierig bis gar unmöglich wurde, dem mordenden großdeutschen Einflussbereich zu entkommen. Insgesamt erreichten in den Jahren 1937 bis 1941 zwischen 18.000 und 20.000 Flüchtlinge Shanghai. Die meisten kamen aus Deutschland, rund ein Viertel aus Österreich, die überwiegende Mehrheit waren Juden.

Ursula Krechel schildert die Lebensgeschichten von Flüchtlingen, die auf historische Personen zurückgehen. Die Figuren und ihre Wege nach und in Shanghai werden zunächst scheinbar unabhängig voneinander geschildert, bis sich einzelne Linien kreuzen und verbinden. Krechel zeigt Menschen, die ums Überleben kämpfen. Das sind zunächst Franziska Tausig aus Wien, die backen kann und der nachgesagt wird, die chinesische Frühlingsrolle erfunden zu haben, und ihr Ehemann, ein ungarischer Rechtsanwalt aus Temeswar, der das Exil in Shanghai nicht überlebt. Der Berliner Buchhändler Ludwig Lazarus, dessen Berliner Antiquariat einer Widerstandsgruppe als Treffpunkt diente, bis die Gestapo ihn verhaftete und internierte. In Shanghai hält er sich mit einem Buch- und Zeitschriftenhandel über Wasser. Wie Lazarus war auch der Berliner Uhrmacher Heinz Kronheim im KZ Buchenwald, beide kamen frei mit der Auflage, das Deutsche Reich sofort zu verlassen; Kronheim emigrierte mit seiner Frau und zwei Kindern nach Shanghai. Lothar Brieger, Kunsthistoriker, vielfacher Autor und Journalist beim Ullstein Verlag, gelingt es zunächst, in Shanghai einen kleinen Lehrauftrag zu ergattern und als Kunstberater tätig zu sein. Die Schülerin Annette Bamberger, die Brieger gelegentlich bei einer Übersetzung hilft, ist allein und auf sich gestellt aus Berlin nach Shanghai gekommen und trifft dort auf ihren Onkel, den Arzt Dr. Wolff. Des weiteren gibt es noch den Juristen Max Rosenbaum und seine Frau Amy, die dank ihres Kofferinhaltes ganz nach Karlsbader Tradition eine kleine Handschuh-Manufaktur eröffnen. Erwähnung finden nicht zuletzt auch Günter und Genia Nobel, die wegen ihrer Tätigkeit für die illegale KPD in Berlin festgenommen wurden und denen unmittelbar nach der Haftentlassung die Flucht nach Shanghai gelingt, wo sie sich erneut einer KPD-Untergrundgruppe anschließen.

Sie alle, die sich unter widrigsten Bedingungen in Shanghai eine neue Lebensgrundlage aufgebaut haben, stehen bald wieder vor dem Nichts, als Anfang 1943 eine verklausulierte Verfügung erlassen wird, die nichts anderes als die Ghettoisierung aller jüdischer Flüchtlinge im Stadtteil Hongkew bedeutet. Die japanische Militärbehörde, seit Dezember 1941 Besatzungsmacht, hatte schließlich dem Druck des deutschen Bündnispartners nachgegeben und das weltweit einzige jüdische Ghetto in einem militärischen Einflussbereich, der nicht von der deutschen Wehrmacht kontrolliert war, errichtet.

Der Roman gibt Einblick in die kaum zu ertragenden, oft genug tödlichen Lebensumstände im Ghetto, die von Hunger und Epidemien geprägt waren, und schildert die vergeblichen Bemühungen des Auswärtigen Amtes in Berlin, die Japaner von der Notwendigkeit der Endlösung der Judenfrage zu überzeugen. Am 15. August 1945 kapitulierten die Japaner, am 3. September wurde das Ghetto aufgelöst. Es sollte jedoch noch zwei bis drei Jahre dauern, bis für die meisten eine Möglichkeit zur Weiterwanderung in die USA, nach Israel, Australien oder Europa und für eine Minderheit die Rückkehr in die alte Heimat greifbar wurde. Krechel verfolgt die Rückkehr einiger Exilanten nach Deutschland und zeigt die skandalöse Art und Weise, wie man von Amts wegen mit ihnen umging. So wurde beispielsweise Lazarus 1951 eine Entschädigung von 5.500 DM für die 37 Monate seiner Freiheitsberaubung in Deutschland zugesprochen, jedoch nicht für den Zwangsaufenthalt im Ghetto in Shanghai. Die Begründung lautete, das sogenannte Shanghaier Ghetto sei keine nationalsozialistische Haftstätte gewesen. Lazarus focht die Entscheidung an. Sein Antrag auf Neubewertung der Zeiten, in denen er seiner Freiheit beraubt war, wurde nach drei Jahren Warten abgelehnt. Wieder schreibt er an die Wiedergutmachungsstelle – inzwischen gibt es ein bundeseinheitliches Wiedergutmachungsgesetz – und bekommt am 21. Februar 1955 Recht zugesprochen und das Land Niedersachsen wird zur Zahlung von 4.050 DM verurteilt. Aber das Land zahlt nicht und legt Berufung ein, die im April 1957 endgültig zurückgewiesen wurde. Nach 6 Jahren des Prozessierens und Wartens bekommt Ludwig Lazarus – nach Abzug eines ihm bereits gezahlten, aber nicht zustehenden „Mehrentschädigungsbetrags“ – die restlichen 3.600 DM ausgezahlt.

Mehr als 30 Jahre hat sich Ursula Krechel mit diesem fast vergessenen Stück Exilgeschichte beschäftigt, hat dokumentarisches Material aus europäischen und israelischen Archiven gesammelt, las Zeitzeugenberichte, Akten der Hilfsorganisationen und Konsulate, studierte zeithistorische Arbeiten und Entschädigungsakten, besuchte Shanghai. Entstanden ist ein lesenswerter und bewegender, ein ganz großer Exil-Roman, der viel über das Shanghai der 1930er und 1940er Jahre preisgibt.

Heute gibt es in Shanghai ein Jüdisches Flüchtlingsmuseum, das in der im Jahr 2004 aufwendig restaurierten alten Ohel Moshe Synagoge und in zwei Ausstellungshallen untergebracht ist. Es befindet sich im ehemaligen jüdischen Viertel im Hongkou Distrikt (damals Hongkew); ebenso erinnert ein Gedenkstein im Houshan Park im Südosten des früheren Ghettos an die ehemaligen Gefangenen. Wenn wir das Museum und die Erinnerungsstätten besucht haben, melden wir uns mit weiteren Informationen, die sicherlich einen gesonderten Eintrag in unserem Blog finden werden.

 

Hier nun einige Leseproben aus Ursula Krechels Roman „Shanghai fern von wo“:

  1. Herr und Frau Tausig auf der TS Usaramo auf dem Seeweg nach Shanghai. „Neun Wochen auf einem überfüllten Schiff, gepfercht wie eine Ladung Heringfässer oder Öl. Es war ein deutsches Schiff, das in Fernost verschrottet werden sollte. Das blaue Wasser des Ozeans färbte sich schmutzig gelbbraun, neun Wochen, überlang und gedehnt, schnurrten zusammen zu einem einzigen Abschied und zu einer Ankunft. Neun Wochen voller Angst: das Schiff drehte ab, oder es durfte nicht landen und würde seine schwere Passagierlast zu einem Amalgam aus Kummer und Hoffnungslosigkeit verdauen, zermalmen. Das Schiff umrundete das Kap der Guten Hoffnung, weil das Deutsche Reich sich weigerte, Devisen für die Kanalgebühren der Suez-Passage zu entrichten. Aber das Schiff fraß sich Meile für Meile durch den Stillen Ozean. … Die Dunkelheit, die Schwüle hüllte die Scham ein. In der Nacht auf dem schwankenden Schiff waren die Erniedrigungen in Wien ganz nah, doch sie näherten sich Shanghai, der Küstenstreifen war eine dunkle Wand, auf die die Vergangenheit prallte“ (Krechel 2008, S. 17).
  2. Eines der Flüchtlingsheime, in denen auch Brieger und Lazarus untergekommen waren, lag in der Ward Road. „Vollgestopfte Menschenheime, die den Sinn des Wortes „Heim“ entleerten, Ansammlungen von Koffern, von Gerettetem, von Gehortetem, Ansammlungen von Gegenständen, die vielleicht einmal etwas wert gewesen waren, die man hätte verkaufen können, aber die man lieber behalten hatte zu einem ungewissen Zweck, zu warme Kleidung, zu schwere Schuhe, Bilder und Gerätschaften, über die man stolperte, am besten: man hatte nichts, man rettete täglich nur die nackte Haut“ (Krechel 2008, S. 155).
  3. Endlösung der Judenfrage in Shanghai. „Lazarus sagte auch, daß die perfekte Registrierung der Emigranten von den Deutschen im Generalkonsulat den Japanern zuerst nahegelegt, dann aufgezwungen worden sei. Was in Warschau, was in Lodz, in Riga die planmäßige und systematische Vernichtung der Juden erst möglich machte, das bereiteten die Deutschen auch in Shanghai vor. Die Japaner, so erklärte es Lazarus seinen imaginären Zuhörern, hatten keine Vorstellung davon, warum die Deutschen die Juden erst zu Bürgern zweiter Klasse erniedrigt, dann ausgebürgert hatten und immer noch nicht zufrieden waren mit ihrer gründlichen Arbeit, sie verstanden es nicht. Was gingen die Deutschen ausgebürgerte Staatenlose noch an? Der Volkskörper hatte sie herausgeeitert. Und auch der Unterschied zwischen Ariern und Nichtariern war den japanischen Behörden von Herzen gleichgültig. Doch nach dem Kriegseintritt der USA waren sie den Vorurteilen gegenüber einem kapitalistischen Weltjudentum eher aufgeschlossen. … Und die Emigranten hatten Angst, etwas geschähe, das sie sich nicht vorstellen könnten … Gerüchte kamen auf, erzählte Lazarus, die Juden sollten auf Schiffe gebracht werden, und die altersschwachen Schiffe sollten versenkt werden. Oder die Juden sollten ohne Nahrung auf der fast unbewohnten Insel Tsungming in der Yangzi-Mündung ausgesetzt werden, damit sie langsam, dem Blick der Öffentlichkeit entzogen, verhungerten“ (Krechel 2008, S. 291f.).
  4. Verzweiflung im Ghetto. „Das Ghetto war eine Schule des Selbstverlustes, eine Schule, die Realität, die noch im Traum vorhanden war, abzuschließen, zu verlassen, ohne Befähigung zu irgend etwas, auch ohne ein Zeugnis. Denn ein Zeugnis hätte die Zeit ins Spiel gebracht: Ich überlebe, ich überlebte, ich habe überlebt, ich werde überlebt haben. Ich bestätige mir selbst, daß ich ein Überlebender bin. Doch jeder Tag war ein schwankender, gedehnter Tag, der den Gehenden mitriß, leicht zu Fall brachte. Tag, der sein Ende nicht fand, und wenn er es fand, fehlte der Zeuge, der schrieb: Das war der Tag, den zu überleben ich nicht mehr in der Lage war“ (Krechel 2008, S. 309f.)
  5. Die Entscheidung der Obersten Wiedergutmachungsbehörde 1951, das Ghetto in Shanghai nicht als Haftstätte anzuerkennen. „Haft, Emigration, Ghetto, all dies muß für die Wiedergutmachungsmaschinerie bezeugt, bewiesen, beglaubigt werden. Daß das Ghetto in Shanghai mit seinen jammervollen Bedingungen ihn [Lazarus] beinahe das Leben gekostet hätte: Die deutschen Gerichte wollen es nicht hören. Feinsinnige Disputationen über die Definition eines Ghettos werden gesponnen, Schriftwechsel und Akten noch und noch: Muss jemand eingesperrt sein, von wem, warum, wie lange? Gibt es nicht auch eine freiwillige Ghettoisierung aus religiösen, sozialen Gründen? Und wenn jemand unfreiwillig Bewohner eines Ghettos geworden ist, wie hoch muß, bitte sehr, der Zaun sein, damit jemand wirklich als inhaftiert gilt? Setzt Ghettohaft eine Ummauerung oder Eindrahtung voraus, genügt es, daß die Bewegungsfreiheit über den Bezirk hinaus unmöglich gemacht wurde? Und wenn es einen Zaun, wenn es bewachte Ausgänge gab, läßt sich die Höhe des Zauns beweisen? … Häßliche Schriftsätze, ein Hin und Her voller juristischer Bedenken, bei dem nicht nur Lazarus speiübel wurde“ (Krechel 2008, S. 495f.).

 

Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. 3. Aufl. btb Verlag, München 2010.

 

[1] Der Status Shanghais als offene Stadt ist auf die Niederlage Chinas im Opiumkrieg gegen England (1842) zurückzuführen und auf die von der britischen Militärregierung erzwungenen Öffnung der Hafenstadt, in deren Folge exterritoriale Gebiete mit eigener Verwaltung und Gerichtsbarkeit entstanden. Der sogenannte Vertrag von Nanking war der erste in einer Folge, die später als „unequal treaties“ in die Geschichtsschreibung Chinas eingehen sollten.